Die Andrea Doria - Italiens Renaissance auf See
icht nur in Deutschland standen die großen Reedereien nach dem zweiten Weltkrieg einmal mehr vor dem Nichts. Auch das bis ein Jahr vor Kriegsende mit Nazi-Deutschland verbündete Italien hatte zu Kriegsende einen Verlust von zwei Dritteln seiner zivilen Flotte zu beklagen. Berühmte und beliebte Passagierschiffe wie die
Rex waren dem Krieg zum Opfer gefallen, und die Reedereien mussten somit ihre Flotten von Grund auf erneuern.
Erst Anfang der 50er Jahre war es deshalb soweit, dass alteingesessene Linien wie die Italian Line mit neuen Linern den Transatlantikverkehr auf der südlichen, durch das Mittelmehr verlaufenden Route, wieder aufnehmen konnten.
Neben der
Cristofero Colombo, die 1954 in Dienst gestellt wurde ließ die Italian Line noch ein weiteres Schiff in Autrag geben: die
Andrea Doria, benannt nach einem genuesischen Admiral des sechzehnten Jahrhunderts.
Die
Andrea Doria, mit deren Bau 1951 begonnen worden war, war ein Jahr vor der
Cristofero Colombo in Dienst gestellt worden und damit das erste nach dem Zweiten Weltkrieg neu gebaute Passagierschiff der Italiener. In Größe (214 m Länge) und Geschwindigkeit reichte sie zwar nicht an ihre Vorgänger, von denen vor allem die
Rex zu erwähnen ist, heran.
Jedoch war sie ohnehin überhaupt nicht darauf ausgelegt, etwa um das Blaue Band mitzufahren oder die "Queens" der britischen Cunard Line an Größe herauszufordern. Die
Andrea Doria verstand sich als mittelgroßer Liner, der fehlende Größe oder Geschwindigkeit problemlos durch Eigenschaften wie modernem Luxus und den modernsten technischen Errungenschaften - wie etwa das zu diesem Zeitpunkt gerade erst aufgekommene Radar - wettzumachen vermochte. Nicht minder bemerkenswert war neben ihrer erlesenen Einrichtung, die auf perfekte Weise "den Stil der fünfziger Jahre bewusst mit dem künstlerischen Erbe Italiens verband" auch ihr äußeres Erscheinungsbild. Es mutete trotz seiner Größe mehr an wie eine elegante Yacht, die Linien waren stromlinienförmig und die Aufbauten mit dem einen, weiß gewandeten Schornstein fügten ich perfekt in die Schiffssilhouette ein. Was seinerzeit die
Normandie für die Franzosen gewesen war, war die
Andrea Doria nun für die Italiener: ein Ausdruck wieder gewonnenen Nationalstolzes nach der dunklen Zeit des Krieges.
Auch in finanzieller Hinsicht schien die
Andrea Doria kein Unbill fürchten zu müssen. Ihre Indienststellung fiel mit dem Beginn der Fünfziger Jahre in eine Zeit, da der Transatlantik-Passagierverkehr seine letzte Blüte erlebte; noch waren die Düsenflugzeuge nicht so weit, dass sie den majestätischen Riesen auf Dauer ihre Rolle als das Transportmittel erster Wahl über den Atlantik streitig machen konnten. Entsprechend groß war die Nachfrage für Passagen auf dem neuen Stolz der Italian Line.
Und dennoch… lange sollte es nicht mehr dauern, bis die Ära der großen Passagierschiffe sich endgültig und für immer dem Ende zu neigen sollte und die Verkehrsflugzeuge ihren Platz für den Massentransport zwischen den Kontinenten einnehmen sollten.
1958 wurde der erste Nonstop-Linienflugdienst zwischen Europa und Nordamerika eröffnet. Zwei Jahre danach war der Anteil der Passagiere, die zur Überquerung des Atlantiks das Flugzeug den Ozeanlinern vorzogen, bereits auf annähernd siebzig Prozent geklettert. Ein weiteres Jahrzehnt danach nutzten gerade noch fünf Prozent der Reisenden den Seeweg, und entsprechend dieser Entwicklung wurden zahllose Linienverbindungen eingestellt, und die einstmals die See beherrschenden schwimmenden Grand Hotels wurden zu Dutzenden in Kreuzfahrtschiffe umgebaut (selbiges geschah auch mit der
Cristofero Colombo), noch viel öfter aber gleich ganz außer Dienst gestellt und verschrottet.
Den unaufhaltsamen Abstieg der Ozeanriesen sollte die
Andrea Doria jedoch nicht mehr erleben. Am 25. Juli 1956 war das Schiff gerade auf den letzten Seemeilen einer bis zu diesem Zeitpunkt ruhig und ohne besondere Vorkommnisse verlaufenen neuntätigen Reise von Genua nach New York südwestlich des die Einfahrtsschneise zum New Yorker Hafen markierenden Feuerschiffs von Nantucket Island. Die See war ruhig, allein eine dichte Nebelbank behinderte die Sicht, was jedoch Kapitän Piero Calamai nicht sonderlich beunruhigte - immerhin konnte das Radar der
Andrea Doria eventuell auftauchende Hindernisse problemlos rechtzeitig orten.
Zur gleichen Zeit befand sich der kleine schwedische Passagierdampfer
Stockholm in den Gewässern südlich von Nantucket. Die
Stockholm hatte New York vor wenigen Stunden verlassen, befand sich auf der Rückreise nach Schweden und fuhr ein wenig abseits - nämlich nördlich - der empfohlenen Route für von New York auslaufende Schiffe. Zwar musste der augenblicklich auf der Brücke der
Stockholm Dienst habende dritte Offizier Carstens-Johannsen damit rechnen, auf dieser Route einfahrenden Schiffen zu begegnen, jedoch war verkürzte der nördlichere Kurs die Reisedistanz, weswegen sie gerne und auch von anderen Kommandanten genutzt wurde. Weiterhin befand sich die
Stockholm noch nicht in der die
Andrea Doria umgebenden Nebelbank und hatte somit keine Veranlassung, mit einer Verschlechterung der Sicht zu rechnen. Und selbst wenn, so verfügte auch die
Stockholm noch über ein Radargerät, welches sie vor eventuellen Hindernissen rechtzeitig warnen würde.
Um 22.45 ortete die mit einem Radargerät etwas größerer Weite ausgestattete
Andrea Doria die
Stockholm das erste Mal; das Schiff befand sich zu diesem Zeitpunkt siebzehn Seemeilen entfernt und etwa vier Grad an Steuerbord, was bedeutete, dass das Schiff mehr oder weniger auf dem Kurs der
Andrea Doria lag. Kapitän Calamai vermutete in dem Dampfer ein kleines Küstenschiff, das vermutlich irgendwann in Richtung Norden - zur Küste hin - abdrehen würde, wohl auch weil das Radar die
Stockholm einige Grad an Steuerbord - also rechts des Bugs anzeigte. Somit entschloss sich Calamai, entgegen der üblichen Regeln, das betreffende Schiff an Steuerbord zu passieren - es schien ja bereits an Steuerbord zu liegen, und wollte man es nun Backbord passieren, so hätte man vor dem Bug des anderen Schiffes kreuzen und einen großen Umweg fahren müssen - so die Einschätzung an Bord der
Andrea Doria.
Auf der
Stockholm hatte man das entgegenkommende Schiff mittlerweile ebenfalls geortet, kam jedoch zu ein wenig anderen Ergebnissen. Zwar ortete die
Stockholm die
Andrea Doria ebenfalls als direkt voraus und mit - aus ihrer Sicht - ein paar Grad Abweichung an Backbord.
Jedoch gewann der diensthabende Offizier nach zwei Funkpeilungen, um den Kurs des Schiffes zu ermitteln, den Eindruck, der entgegenkommende Dampfer wolle die
Stockholm an Backbord passieren.
Inzwischen waren beide Liner nur noch sechs Seemeilen voneinander entfernt. Von der
Stockholm aus hatte man jedoch immer noch keinen Sichtkontakt zu dem anderen Schiff, was die Offiziere verwunderte - noch immer hatten sie keine Ahnung, dass sie direkt auf eine Nebelbank zusteuerten, und die Möglichkeit, das dem so wäre, schienen sie nicht in Erwägung zu ziehen.
Auf der
Andrea Doria hatte man sich gar nicht erst die Mühe gemacht, den Kurs des entgegenkommenden Schiffes mittels von Funkpeilungen zu ermitteln. Nach wie vor war Kapitän Calamai der Überzeugung, das andere Schiff befände sich leicht Steuerbord von der
Andrea Doria. Er ließ also nach Backbord abdrehen. Zu diesem Zeitpunkt, und mittlerweile weniger als 2 Seemeilen voneinander entfernt, bekamen die beiden Schiffe Sichtkontakt. Sie befanden sich in sehr spitzem Winkel zueinander, so dass man auf der
Andrea Doria die Positionslichter der
Stockholm an Steuerbord sichtete, und die
Stockholm die der
Andrea Doria wiederum auf Backbord sah. Für den ersten Moment schienen sich die Annahmen der Schiffsbesatzungen sogar zu bestätigen, denn die Schiffe befanden sich jeweils an den Positionen, wie man es auf der jeweils anderen Seite erwartet hatte. Carstens entschied sich nun, den Kurs auf hart Steuerbord zu setzen - er wollte kein Risiko eingehen und dem entgegenkommenden Schiff in weitem Bogen ausweichen. Jedoch hatte auch die
Andrea Doria zuvor schon ihren Kurs in Richtung Steuerbord geändert - mit ihrem neuen Kurs bewegte sich die
Stockholm nun wieder direkt auf die
Andrea Doria zu. Inzwischen waren beide Schiffe kaum mehr als eine Seemeile voneinander entfernt. Auf der
Andrea Doria bemerkte man die Kursänderung der
Stockholm zu spät - zudem hatte man es versäumt, mit dem Nebelhorn die eigene Kursänderung zu signalisieren. Die
Stockholm erkannte nicht rechtzeitig, dass die
Andrea Doria ebenfalls nach Süden abzudrehen versuchte.
Trotz des Nebels war die
Stockholm nun deutlich zu erkennen - und auch, dass sie den Kurs in Richtung
Andrea Doria geändert hatte. Alarmiert versuchte Calamai, sein Schiff abzudrehen. Er befahl Hart Backbord und hoffte, die
Andrea Doria würde dank ihrer Manövrierfähigkeit Drehung nach rechts schneller absolvieren als die
Stockholm ihre Drehung nach links, das dass beide Schiffe einander doch noch passieren können.
Jedoch… trotz ihrer ausgezeichneten Manövriereigenschaften war die
Andrea Doria ein über 200 Meter langer und viele tausend Tonnen schwerer Ozeanriese, der zum Wenden seine Zeit braucht - und inzwischen war die Distanz zur
Stockholm auf wenige hundert Meter zusammengeschmolzen. Auf der
Stockholm gewahrte Carstens entgeistert, dass die
Andrea Doria plötzlich nach Backbord abdrehte - sie kreuzte direkt vor seinem Bug. Carstens befahlt verzweifelt Hart Steuerbord und ließ alle Maschinen volle Kraft zurück laufen - doch es sollte nicht mehr reichen. Ausgerechnet in dem Moment, da die
Andrea Doria abzudrehen versuchte und ihre verwundbare Steuerbord-Längsseite in Richtung der
Stockholm wies, bohrte sich deren Bug knapp achtern der Brücke in den Rumpf der
Andrea Doria und riss ein Leck bis fast zum Kiel herab.
Hätten die Schiffe bis zuletzt Kurs aufeinander gehalten und wären nur am Bug zusammengestoßen, die Folgen für die
Andrea Doria wären bei weitem nicht so verheerend gewesen. Mit dem riesigen Leck in der Seite schien sie jedoch verloren. Bereits wenige Minuten nach der Kollision war die Schlagseite auf ein bedrohliches Maß angewachsen, und sie nahm binnen kürzester Zeit soweit zu, dass es nicht mehr möglich war, Rettungsboote von der Backbordseite abzufieren. Die Boote an der Steuerbordseite konnten jedoch nur 1004 der insgesamt 1706 Menschen aufnehmen.
Dass es dennoch nicht zu seinem Katastrophenszenario wie seinerzeit beim Untergang der
Titanic kam, ist vor allem verschiedenen glücklichen Umständen zu verdanken. Zum einen konnte sich die
Andrea Doria annährend elf Stunden über Wasser halten, bevor sie letztlich doch kenterte und sank. Dies war genug Zeit, um alle Überlebenden sicher von Bord zu bringen.
Zum anderen war rasch Hilfe zur Stelle: nicht nur von der havarierten
Stockholm selber, deren Schaden am Bug zwar gewaltig war, jedoch nicht so schlimm, dass das Schiff vom Untergehen bedroht wurde, sondern auch und insbesondere von der
Île de France. Deren Kapitän de Beaudéan hatte, nachdem er das Notsignal der
Andrea Doria empfangen hatte, umgehend Kurs auf die Unglücksstelle genommen und war rechtzeitig vor Ort. De Beaudéan brachte seinen eigenen Liner bis auf 400 Meter an die leckgeschlagene
Andrea Doria heran, so dass bis zum Morgengrauen alle Passagiere, die nicht bei der Kollision an sich zu Schaden gekommen waren, wohlbehalten von Bord gebracht werden konnten. Selbst der Kapitän der
Andrea Doria, der eigentlich an Bord des Schiffes bleiben und notfalls mit ihm untergehen wollte, wurde gerettet, nachdem sich die Besatzung des Schiffes geweigert hatte, ohne ihn den Dampfer zu verlassen.
Insgesamt 47 Menschenleben hatte das Unglück vor der nordamerikanischen Küste gefordert, alles direkte Opfer der Kollision. Die übrigen waren jedoch in Sicherheit, als die
Andrea Doria am Vormittag des 26. Juli 1956 unterging und wenig später auf dem Grund des Meeres anlangte. Sie war der letzte Passagierdampfer nach dem Stil der klassischen Ozeanliner, der ein solches Seegrab erhielt. Jedoch sollten die meisten ihrer Mitkonkurrentinnen über Wasser die
Andrea Doria nur um wenige Jahre überleben, und die wenigen, die den Einbruch der Passagierzahlen auf See noch überlebten, mussten spätestens 20 Jahre nach dem Ende der
Andrea Doria das Antlitz der Weltmeere verlassen. Allein Cunards
Queen Elizabeth 2, die ebenso oft als Kreuzfahrtschiff eingesetzt wird, bedient auch heute noch die traditionsreiche Strecke Southampton - New York im Stile der alten Transatlantik-Liner. Eine sympathische Anekdote, dass gerade die Reederei, die vor rund 150 Jahren den regelmäßigen Passagierverkehr über den Atlantik mit Dampfschiffen begründete, die letzte Linie ist, die die Strecke noch immer fährt. Und wohl mit Erfolg: die
Queen Mary 2, die der
Queen Elizabeth 2 im laufe des kommenden Jahres an die Seite gestellt werden wird und gerade im Bau ist, wird das größte Passagierschiff aller Zeiten sein. Dennoch, auch diese Queen wird ihre Passagiere nur mehr um der Reise selbst willen über die Weltmeere fahren. Das Zeitalter der Passagierdampfer als Rückgrat des weltweiten Personenverkehrs indes ist Geschichte.
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