Die Titanic - ein Schiff als Mythos, Menetekel und Mahnmal der Menschheit
ie hat die ihr gestellte Aufgabe nicht ein einziges Mal vollständig erfüllt, sie hat niemals ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen können, sich niemals im Linienbetrieb einen Ruf erwerben können. Und dennoch - und wohl auch gerade wegen dieser Umstände - wurde sie zum berühmtesten aller Liner, und man mag sogar annehmen, zum berühmtesten Wasserfahrzeug überhaupt. Unzweifelhaft umgibt kein Schiff, das sonst noch die Meere überquerte ein solch großer Mythos wie es beim
Royal Mail Steamer Titanic der Fall ist. Der Mythos ist größer als all das, was das eigentliche Passagierschiff
Titanic je ausmachte, das ja gerade einmal 5 Tage seinen Dienst verrichtete. Denn im Schicksal dieses Schiffes fanden sich all diejenigen Elemente, die die große klassische Tragödie der Antike ausmachten, zudem die grausame Erkenntnis einer damals in fast bedingungsloser Fortschritts- und Technikgläubigkeit euphorisierten Menschheit, dass nichts, was sie der Natur entgegenstellt, ihr mit absoluter Sicherheit trotzen kann. Es war ein menschliches Drama mit Schuld, Versäumnissen, Fehlern, gepaart mit der schicksalhaften Unausweichlichkeit. Und weil in ihm versinnbildlicht so viele Träume und Ängste eines jeden Menschen erweckt und hervorgerufen wurden, entwuchs dem bis dahin schlimmsten Seeunglück in Friedenszeiten eine mythische Komponente, eine Faszination, die bis heute nicht erloschen ist und in hunderten von Büchern, Dramen und Verfilmungen gegenwärtig bleibt.
All das war freilich nicht abzusehen, als im Jahre 1907 die ersten Gedankenspiele zum Bau der Liner der Olympic-Klasse stattfanden. Vor kurzem erst war Cunards
Lusitania vom Stapel gelaufen und hatte neue Maßstäbe in Bezug auf Geschwindigkeit und Komfort auf den Weltmeeren gesetzt. Ein Umstand, von dem Cunards schärfster britischer Konkurrent, die White Star Line, schwerlich begeistert sein konnte, stand doch zu erwarten, dass Cunard mit der
Lusitania und der
Mauretania auf absehbare Zeit den Passagierverkehr über den Atlantik dominieren würden. Eine Herausforderung, auf die White Star zu reagieren gedachte, und für das sie als Konzerntochter von J.P. Morgans mächtiger International Mercantile Marine auch die erforderlichen Mittel besaß.
Konzipiert wurden zwei Liner von gigantischen Ausmaßen, die mit rund 45.000 Bruttoregistertonnen die Cunard Schnelldampfer um rund 50% an Größe übertreffen und darüber hinaus nie gekannten Komfort und Luxus an Bord bieten sollten. Mit einer geplanten Länge von rund 270 Metern sprengten die Dampfer die Dimensionen bisheriger Helling-Anlagen;
die britische Werft Harland & Wolff, die traditionell die White Star Dampfer auf Kiel legte und baute, musste somit ganz neue Anlagen zum Bau der Schiffe konstruieren. Es war von Anfang an nicht vorgesehen, sich mit den schnellen Cunard-Linern in punkto Geschwindigkeit zu messen; die White-Star Dampfer sollten ihr Publikum durch ihre majestätische Größe und den an Bord gebotenen Luxus gewinnen. Dennoch sollten die Liner - mit zwei Dreifach-Expansionsmaschinen und einer Niederdruck-Dampfturbine ausgerüstet - genug Geschwindigkeit aufnehmen können, um den Atlantik in deutlich weniger als einer Woche zu überqueren.
Mit der Kiellegung des jüngeren Schwesterschiffes der
Titanic, der
Olympic, wurde Ende 1908 begonnen, wenige Monate später wurden direkt daneben die Arbeiten am Rumpf der
Titanic begonnen. Unter einem beinahe 70 Meter hoch aufragenden, eigens für den Bau konstruierten Helling-Gerüst nahmen die beiden Ozeanriesen dann in den nächsten anderthalb Jahren Gestalt an. Im Herbst 1910 schließlich
wurde der Rumpf der
Olympic vor einer großen Zuschauerzahl zu Wasser gelassen, und ein gutes halbes Jahr später war sie für ihre Jungfernfahrt über den Atlantik bereit. Das Kommando über die
Olympic bekam Edward J. Smith, der im kommenden Jahr auch die Titanic auf ihrer ersten und einzigen Fahrt kommandieren sollte. Die Überfahrt verlief ohne größere Probleme und ließ White Star große Erwartungen an den kommerziellen Erfolg des regulären Linienverkehrs knüpfen, sobald erst einmal beide Liner einsatzbereit waren. Vor allem hatte die Reederei bereits Pläne für ein drittes Schwesterschiff in der Schublade, mit welchem sich die White Star endgültig einen großen Anteil am Transatlantikverkehr hätte sichern können.
Am 10. April 1912 war dann auch die
Titanic bereit für ihre erste Atlantiküberquerung. Sie war im Großen und Ganzen baugleich mit der
Olympic, jedoch hatte sie in einigen Punkten bauliche Veränderungen erfahren, die größtenteils aus Erfahrungen mit Konstruktionen auf der
Olympic resultierten,
die sich als weniger günstig erwiesen hatten. Augenscheinlichster äußerlicher Unterschied zwischen den beiden Schiffen war dabei die Verkleidung des Promenadendecks bei der
Titanic bis hin zum Fuß des dritten Schornsteins als Windschutz. Die 30cm, die die jüngere Schwester länger als die
Olympic war, konnten zwar nicht ins Auge fallen. Jedoch war die
Titanic durch diesen halben Meter Unterschied zum Zeitpunkt ihrer Indienststellung das größte je gebaute Schiff und übte allein durch diesen Titel schon eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft auf potentielle Reisende aus. Darüber hinaus wartete sie mit Annehmlichkeiten auf, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mitunter revolutionär waren; das Schiff bot unzweifelhaft einem Komfort, der seinesgleichen suchte, selbst in den unteren Passagierklassen. Und In der Tat lockte die Jungfernfahrt des Ozeanriesen eine hohe Zahl prominenter Passagiere des Adels und Geldadels jener Zeit an; selten hatte ein Schiff wohl eine klangvollere Passagierliste vorzuweisen.
Unter diesen ausgezeichneten Vorzeichen für eine glanzvolle Jungfernfahrt verließ die
Titanic Southampton und nahm nach Zwischenstopps vor Cherbourgh, Frankreich und Queenstown, Irland am 11. April Kurs auf New York; ihre letzten vier Tage auf See.
In der Nacht zum 15. April 1912 schließlich ereilte das Schiff jenes Schicksal, das es zur Legende werden ließ und welches literarisch wie auch filmisch ungezählte Male verarbeitet und diskutiert worden ist. Ungebremst und zahlreiche Eiswarnungen ignorierend, das kalkulierte Risiko einer Kollision in Kauf nehmend, um dem Termindruck einer nicht allzu späten Ankunft in New York gerecht zu werden, begab sich das größte Schiff der Welt in ein tückisches Eisfeld und kollidierte kurz vor Mitternacht mit dem schicksalhaften Eisberg. Wäre sie frontal mit dem Eisberg zusammengestoßen, wäre die
Titanic über Wasser geblieben, doch die Besatzung versuchte, dem Eisberg noch auszuweichen,
so dass das Eis schließlich auf die viel verletzlichere Flanke des Schiffes traf. Es fügte der
Titanic unterhalb der Wasserlinie auf einer Länge von fast 90 Metern zahllose Lecks zu, die in ihrer Gesamtheit einen nicht zu stoppenden Wassereinbruch verursachten. Darüber hinaus besaß das Schiff zwar wasserdichte Abteilungen, jedoch liefen diese nur bis zum E-Deck und damit nicht hoch genug, da das eindringende Wasser den Bug nach unten drückte und damit das Wasser einfach über die Schotts überlaufen und in die dahinter liegenden Abteilungen eindringen konnte. Katastrophal für die Passagiere und Besatzung war außerdem der Umstand, dass die
Titanic wie alle Ozeandampfer ihrer Zeit keinesfalls genug Rettungsboote mitführte, als dass alle an Bord befindlichen Menschen hätten Platz darin finden können; ein Misstand, der auf zu lasche und veraltete Sicherheitsbestimmungen der Seefahrtsbehörden zurückzuführen war. Dadurch wurde das Untergehen des Schiffes automatisch zu einer menschlichen Tragödie - über 1100 Menschen
mussten im eiskalten Wasser des Nordatlantiks erfrieren oder ertrinken, nur 711 konnten am Morgen des 15. April vom Cunard-Dampfer
Carpathia geborgen werden.
Das schlimmste Schiffsunglück, das die Seefahrt bis dahin in Friedenszeiten erlebt hatte löste großes Entsetzen und Trauer auf beiden Seiten des Atlantiks aus, und es war gewissermaßen der Todesstoß für den fortschrittsgläubigen Zeitgeist zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem die Technik alles möglich zu machen schien und der Mensch imstande, sich die Natur dauerhaft zu unterwerfen. Das Unglück war eine Zäsur im kollektiven Denken der Gesellschaft, aber gleichermaßen auch der Anstoßpunkt für neue Überlegungen. Mit Hinblick auf das schreckliche Schicksal der
Titanic wurden zahlreiche Anstrengungen unternommen, die Sicherheit auf See zu verbessern: ausreichend Rettungsboote auf Schiffen wurden ebenso Pflicht wie verbesserte Schottentechnik oder auch die Verordnung, dass fortan jedes Schiff zwingend eine Funkanlage besitzen und der Funkraum rund um die Uhr besetzt sein musste. Dies war ein Resultat des Umstandes, dass zum Zeitpunkt des Untergangs der
Titanic oft nur ein Funker an Bord eines Schiffes war - wenn an Bord sich überhaupt eine Funkanlage befand - und dieser das Funkgerät natürlich nicht rund um die Uhr bedienen konnte. So war etwa der Funker der
Californian, einem Passagierschiff, das sich viel näher an der Position der
Titanic befand als die
Carpathia, und die vielleicht früh genug die Unglücksstelle hätte erreichen können, um auch noch Überlebende aus dem Wasser aufzunehmen, kurz bevor die
Titanic ihre ersten Notrufe absetzte schlafen gegangen.
Auch wurde ein einheitlicher Standard für das Notraketen vereinbart. Diesen hatte es
bis dato nicht gegeben, so dass die Notraketen, die die
Titanic-Besatzung abfeuerte zwar von der
Besatzung der
Californian gesichtet, aber nicht als Notsignal interpretiert wurden.
Alles in allem bleibt auch heute noch, nach zahllosen Recherchen und Untersuchungen, Befragungen von Ãœberlebenden und Ereignisrekonstruktionen, nachdem Tiefsee-Expeditionen 1985 erstmals das Wrack der
Titanic ausmachten und seitdem viele Male untersuchten, noch vieles um die genauen Umstände des Unglückes im Dunkeln. Stoff, aus dem sich bevorzugt Legenden bilden und der dafür sorgt, dass das Interesse am Mythos
Titanic niemals erlischt. Das Schiff selbst hat nie das vollbracht, wozu es geschaffen worden war, es war noch nicht einmal eine Woche lang im tatsächlichen Einsatz. Doch sein Mythos ist unsterblich geworden und hat alle anderen Ozeanriesen dieser Epoche in unendlich großem Maße übertroffen, die Jahrzehnte überlebt und wird vermutlich für alle Zeiten in der Fantasie und Faszination der Menschen lebendig bleiben.
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