Die Vaterland/Leviathan - maritimes Meisterstück mit bewegtem Schicksal
ls im Herbst des Jahres 1911 zwei 10 Meter lange, 2 Meter breite und rund 3,5 Zentimeter dicke Stahlplatten auf der Hamburger Blohm & Voss Werft miteinander vernietet wurden, hatten offiziell die Arbeiten an einem Glanzstück der Ingenieurskunst des deutschen Kaiserreichs begonnen, aus welchen rund 3 Jahre später das damals größte je gebaute Schiff erwachsen sollte. In der Tat sollte die
Vaterland, an deren Bau nun in Hamburg begonnen worden war, den Höhepunkt der deutschen Passagierschiffahrt markieren - und gleichsam Symbol für ihr jähes Ende mit dem Beginn des Krieges werden. Wenige Schiffe haben eine bewegtere Geschichte, und es gibt wenige Beispiele greifbarerer Sinnbildlichkeit für das Zerbrechen einer Gesellschafts- und dem Verschwinden einer Weltordnung als das Schicksal das bis heute größten Passagierschiffes, das je unter deutscher Flagge gefahren ist.
In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts war es den deutschen Reedereien gelungen,
die Konkurrenz von den britischen Inseln erfolgreich herauszufordern und den Engländern mitunter den Rang als führende Nation in der Passagierschiffahrt abzulaufen. Grund für diesen Erfolg war vor allem die fortlaufende Expansion der Hamburg-Amerika-Linie (HAPAG), die unter der Führung des Hamburger Schiffsmagnaten Albert Ballin zur weitaus größten kontinental-europäischen
Schiffahrts-Linie angewachsen war und auf dem besten Wege war, sogar zur größten Reederei der Welt zu werden. Geschickt hatte Albert Ballin, der zunächst Reeder der kleinen, aber überaus erfolgreichen Carr-Linie war, welche von der HAPAG geschluckt wurde, die Zeichen der Zeit erkannt und seinem neuen Arbeitgeber durch die Einführung neuer Technologien zum richtigen Zeitpunkt, effizientem und ausgesprochen gewinn orientiertem Management sowie dem richtigen Händchen in politischen Fragen ein solch beeindruckendes Wachstum beschert, wie es seit den Tagen von Samuel Cunard keinem einzelnen Mann in einer Reederei mehr gelungen war.
Die
Vaterland schließlich sollte die Krönung von Ballins Bemühungen werden, HAPAG als die Nummer Eins der Reedereien auf den Weltmeeren zu etablieren. Als das Schiff schließlich am 25. April 1914 zu seiner Jungfernfahrt bereit war, war es mit 290 Metern Länge das größte je von Menschenhand
geschaffene bewegliche Objekt, umfasste rund 52.300 Bruttoregistertonnen und sollte trotz seine Größe dank des Einbaus der modernsten Dampfmaschinenanlage ihrer Zeit, die umgerechnet 61.000 PS leisteten, die Meere schneller überqueren können als jeder Dampfer es vor ihr geschafft hatte. Selbstredend war auch für die Annehmlichkeiten der Passagiere im Übermaß gesorgt: in punkto Luxus und Komfort konnte es die
Vaterland mit jedem Grandhotel des Reiches spielend aufnehmen. 1600 Passagiere befanden sich an Bord, als die
Vaterland Hamburg in Richtung New York verließ. Damit war das Schiff auf seiner Jungfernfahrt weniger als halbvoll besetzt, möglicherweise scheuten die Menschen die Überquerung auf einem gänzlich neuen Schiff. Jedoch verlief die Atlantiküberquerung ohne Probleme, erst bei der Ankunft in New York ereignete sich ein Zwischenfall: um nicht einen kleinen Schlepper zu rammen, der unversehens vor dem Bug des Schiffes aufgetaucht war, ließ der Lotse an Bord der
Vaterland die Maschinen stoppen. Danach jedoch war der Koloss nicht mehr in der Lage, in der engen Hudson Bay zu manövrieren, trieb hilflos auf eine in der Nähe liegende Schlickbank zu. Erst mit dem Einsatz dutzender zusätzlicher Schlepper, die eilends herangefahren wurden, konnte der neue Stolz des Kaiserreiches davor bewahrt werden, sich auf unwürdige Weise im Schlamm festzusetzen. Mit fast vier Stunden Verspätung erreichte das größte Schiff der Welt endlich seinen Liegeplatz - ein Vorfall, der symptomatisch für die
Vaterland werden sollte, denn auch bei ihrer Abfahrt sollte es wieder Probleme bei der Navigation geben. Bei all ihrer Eleganz und technischen Finesse - es schien, als sei das Schiff einfach ein wenig zu groß geraten, ein Symbol gewissermaßen für das übersteigerte nationale Ego der rivalisierenden europäischen Großmächte am Vorabend des Untergangs der alten Weltordnung.
Vier Monate, nachdem die
Vaterland ihre Jungfernfahrt absolviert hatte, begann mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien der Erste Weltkrieg. Die
Vaterland befand sich zu diesem Zeitpunkt zwei Tage vor New York, und sollte eigentlich am 31. Juli wieder
von New York aus in Richtung Heimat auslaufen. Weil aber Deutschland inzwischen an der Seite Österreich-Ungarns in den Krieg eingetreten war, Deutschland Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg erklärt hatte und es zu vermuten stand, dass die
Vaterland bei ihrer Heimreise von britischen und französischen Kriegsschiffen aufgebracht und beschlagnahmt werden würde, wurde die Reise abgesagt. Das Schiff sollte fürs erste in den neutralen Vereinigten Staaten bleiben und musste - zusammen mit insgesamt 7 weiteren deutschen Linern, die sich gerade vor Ort befanden - im New Yorker Hafen liegen bleiben, und die Passagiere, die die Passage schon gebucht hatten, mussten sich nach einer anderen Überfahrtsmöglichkeit umsehen. Ein bitteres Los für die
Vaterland, denn sie hatte sich auf ihren bisher sieben Atlantiküberquerungen bestens bewährt und war schon dabei gewesen, sich einen ausgezeichneten Ruf als Atlantikliner zu erwerben. Nun aber war das Schiff zur Untätigkeit verdammt. Rund die Hälfte der Besatzung blieb an Bord und hielt das Schiff instand oder vertrieb sich die Zeit in den deutsch-amerikanischen Kneipen, das Schiffsorchester organisierte Konzerte für Deutsch-Amerikaner oder mit den Deutschen Sympathisierende, um Spenden für das deutsche Winterhilfswerk zu sammeln. Mit dem Angriff auf den britischen Liner
Lusitania wurde die Haltung der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber den Deutschen jedoch schlagartig rauer, viele Amerikaner forderten, als Vergeltungsmaßnahme für den U-Boot-Angriff, bei dem über hundert US-Bürger umgekommen waren, die in amerikanischen Häfen liegenden deutschen Liner zu beschlagnahmen. Die offizielle US-Administration unternahm aber zunächst nichts, um weiterhin die offizielle Position der Neutralität nicht in Frage zu stellen, obwohl die Amerikaner zu diesem Zeitpunkt die Briten und Franzosen natürlich schon mehr oder minder verdeckt mit Kriegsmaterialien unterstützten.
Anfang 1917 propagierte das Deutsche Reich den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, auch amerikanische Handelsschiffe sollten nun von der kaiserlichen Marine attackiert werden. Die Vereinigten Staaten brachen daraufhin die diplomatischen Beziehungen mit
dem Reich ab, es zeichnete sich der Eintritt des Krieges der USA gegen die Deutschen ab. Dies besiegelte auch das Schicksal der noch immer an ihrem New Yorker Pier liegenden
Vaterland. Am 6. April 1917, zehn Stunden vor der offiziellen Kriegserklärung der Amerikaner an das Deutsche Reich, nahmen Angehörige der Hafenpolizei die 300 an Bord verbliebenen Crewmitglieder der
Vaterland in Gewahrsam und brachten sie nach Ellis Island zum Verhör. Die Besatzung leistete keinen wirklichen Widerstand, rund drei Viertel von ihnen nahmen sogar das Angebot der Amerikaner an, die Vereinigten Staaten offiziell als Einwanderer zu betreten. Die übrigen Offiziere und Matrosen wurden für die restliche Dauer des Krieges in Hot Springs, North Carolina, im Mountain Park Hotel unter Hausarrest gestellt. Solchermaßen unspektakulär erfolgte die Beschlagnahmung der
Vaterland. Der größte Passagierdampfer, der bis dato je die Weltmeere befahren hatte, war von nun an kein deutsches Schiff mehr.
Stattdessen sollte die
Vaterland nun dazu beitragen, ihrem tatsächlichen Vaterland die militärische Niederlage zuzufügen: die Amerikaner begannen mit ihrer Umrüstung zum Truppentransporter. US-Präsident Woodrow Wilson gab dem Schiff einen neuen Namen, den es von nun an tragen würde:
Leviathan, nach dem biblischen Ungeheuer aus der Tiefe. Mehr als ein halbes Jahr dauerte die Umrüstung der
Leviathan zu einem seetüchtigen Truppentransporter. Einzelne Sabotageakte der deutschen Besatzung vor der Beschlagnahmung, aber vor allem die lange Liegezeit hatten den Dampfer in einen sehr schlechten Zustand versetzt. Darüber hinaus musste die gesamte luxuriöse Inneneinrichtung komplett entfernt und durch eine zweckmäßige Ausstattung für den Kriegsdienst ersetzt werden. Am 17. November 1917 schließlich war die
Leviathan für ihre neue Aufgabe bereit. Wieder bescherte das Schiff seinen neuen Herren verschiedene Anlaufschwierigkeiten, doch erneut bewies es letztlich seine große Zuverlässigkeit: 19 Fahrten absolvierte sie im Dienst der US Armee und beförderte einmal über 14.000 Menschen auf einmal - mehr, als bis dahin jemals zuvor auf einem einzelnen Schiff gefahren waren.
Nach dem Ende des Krieges sollte das Schiff, das sich als Truppentransporter so gut bewährt hatte, nun endlich wieder seiner ursprünglichen Bestimmung, dem transatlantischen Linienverkehr zugeführt werden. Jedoch musste zuerst ein Investor gefunden werden, der die teure Aufgabe übernehmen wollte, das Schiff wieder in einen eleganten Ozeanliner zu verwandeln. Dieser fand sich schließlich in der Person von William Francis Gibbs, der aus der
Leviathan das Flaggschiff der United States Line machen wollte.
Weil die Erbauerwerft Blohm & Voss von den Amerikanern für die ursprünglichen Bauzeichnungen des Schiffes eine Million Dollar verlangte, entschied sich Gibbs, das Schiff von eigenen Konstruktionszeichnern milimetergenau neu zu vermessen, um neue Bauzeichnungen anzufertigen. Dieser Vorgang allein kostete Gibbs über ein Jahr. Danach dauerte es weitere zwei Jahre, bis das Schiff 1922 nach Newport News, Virginia gebracht wurde, wo sie schließlich für rund 3 Millionen Dollar - mehr, als ihre Baukosten 10 Jahre zuvor betragen hatten - umgerüstet wurde.
Am 4. Juli 1923 schließlich lief der Passagierdampfer
Leviathan zu seiner "zweiten" Jungfernfahrt aus, an Bord waren 1792 Passagiere, wie bei der ersten Fahrt der
Vaterland nur etwa die Hälfte ihres Fassungsvermögens. Die Welt, in die Albert Ballins Schiff nun steuerte, hatte sich allerdings in der Zwischenzeit verändert. Waren die ersten Atlantiküberquerungen der
Leviathan noch gewinnbringend, fuhr sie Ende des Jahres 1923 gleich fünfmal hintereinander einen Nettoverlust ein. Ein Hauptgrund dafür war die rigorosere Einwanderungspolitik der Vereinigen Staaten nach dem Krieg, die die Zuwanderung erschwerten. Die Zahlen der Einwanderer nahmen ab, und damit die zahlreichen Zwischendeckpassagiere, die fünf Sechstel der Passagiere ausmachten, wenn das Schiff ausgebucht war und auf deren mühsam für die Passage zusammengekratzten Dollars der finanzielle Erfolg des Schiffes beruhte.
In den meisten Jahren danach erwies sich die
Leviathan als Verlustbringer, wenngleich sie bei den Passagieren durchaus beliebt und zu einer Institution auf See geworden war: in ihren Passagierlisten sind alle namhaften Berühmtheiten ihrer Zeit wieder zu finden. Ihre schlechte Rentabilität sorgte allerdings dafür, dass sie immer wieder zu anderen Zwecken eingesetzt werden musste, etwa als Vergnügungsdampfer für Wochenendtouren zwischen ihren monatlichen Atlantiküberquerungen. Dies sollte insofern lukrativ sein, weil auf dem amerikanischen Festland noch immer die Prohibition galt, diese jedoch auf dem Schiff beim Verlassen der Hoheitsgewässer nicht mehr eingehalten werden musste. Letztlich konnten aber auch solche Aktionen das Schiff nicht wirklich in die Gewinnzone bringen - Ende 1934 wurde es schließlich
an seinen alten Pier in New York zurückgebracht
und blieb dort die nächsten drei Jahre untätig vor Anker. Das Ende nahte.
Zu Beginn des Jahres 1938 schließlich wurde der einstige Stolz des deutschen Kaiserreichs ein letztes Mal notdürftig seetüchtig gemacht, um seine letzte Atlantiküberquerung anzutreten. Ziel war Rosyth in Schottland, wo die
Leviathan abgewrackt werden sollte. Mit einem Leck im Achterschiff und trotz mehrerer ausfallender Kessel und berstender Ölleitungen schleppte sich das alte Schiff ein letztes Mal über den Atlantik, um seine letzte Ruhestätte zu erreichen, wo es am 13. Januar 1938 anlangte und danach auf Grund gesetzt wurde. Der traurige Koloss, der da nun im schottischen Schlamm steckte, nur noch ein Schatten des einst glanzvollen und eleganten Ozeanriesen, war am Ende seines Lebens angekommen. Wenige Monate danach war das frühere Flaggschiff der deutschen HAPAG und der amerikanischen United States Line in kleine Metallteile zerlegt. Die Ära der Passagierdampfer indes sollte noch eine Weile andauern.
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